Die sedimentierte und wiederholte Objektivität.
Zur psychoanalytischen Zeitigung des Seins
Trương Trọng Hiếu
Abstract
Der Aufsatz untersucht die Möglichkeit einer phänomenologischen Ontologie auf der Grundlage der Freudschen Psychoanalyse. Während Freud die Philosophie, insbesondere die Ontologie, explizit ablehnte, zeigt diese Arbeit, dass seine Theorie dennoch eine ontologische Dimension besitzt, die sich in der phänomenalen Gegebenheit des Seins artikuliert. Durch die Einführung der Konzepte der „psychischen Realität“ und der Objektbesetzung entwickelt Freud eine spezifische Seinsauffassung, die im psychoanalytischen Diskurs verankert ist.
Der Aufsatz argumentiert, dass das Wesen der Freudschen Ontologie in der Transformation der Seinsfrage durch die Objektbesetzung liegt. Diese Ontologie wird entlang dreier zentraler Phasen entfaltet: der ursprünglichen Identifizierung im Mutterleib, der autoerotischen Phase und des Ödipuskomplexes. Jene Phasen bilden einen geschichtlichen Horizont, der die Grundlage für die Konstitution jeder nachträglichen Objektivität im Subjektleben darstellt. Freuds Verständnis der Subjektivität und Objektivität wird als eine sedimentierte und wiederholte Gegebenheit interpretiert, die sich durch die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der Psychoanalyse als „Wiederkehr des Verdrängten“ auszeichnet. Durch die Interpretation des Unheimlichen als der verkehrten Heimlichkeit des verdrängten Urobjekts wird der Ansatz eines immanenten Realismus vorgeschlagen, der die Möglichkeit eröffnet, mit Freuds Theorie in die ontologische Spannung zwischen Idealismus und Realismus einzugreifen.
Abstract
This paper explores the possibility of a phenomenological ontology based on Freudian psychoanalysis. While Freud explicitly rejected philosophy, particularly ontology, this work demonstrates that his theory contains an ontological dimension expressed through the phenomenal givenness of being. By introducing the concepts of “psychic reality” and object-investment, Freud develops a specific understanding of being, rooted in the psychoanalytic discourse.
The paper argues that the core of Freud’s ontology lies in transforming the question of being through object-investment. This ontology is developed across three key phases: the original identification in the womb, the auto-erotic phase, and the Oedipus complex. These phases form a historical horizon that underpins the constitution of any subsequent objectivity in the subject’s life. Freud’s understanding of subjectivity and objectivity is interpreted as a sedimented and repeated givenness, characterized by the temporality and historicity of psychoanalysis as the “return of the repressed”. By interpreting the uncanny as the reversed intimacy of the repressed primordial object, the paper proposes an approach of the immanent realism, which opens up the possibility of intervening in the ontological tension between idealism and realism through Freud’s theory.]
Auf dem ersten Blick scheint die Frage nach dem Sein auf eine Leerstelle bei Freud zu stoßen. Sich selbst als ein empirischer Forscher verstehend lehnt Freud die Philosophie total ab, geschweige denn deren spezifischen Bereich der Ontologie. Diese Ablehnung ist jedoch nur auf ein bestimmtes Verständnis der Philosophie zu richten und verhindert nicht die Integration seiner Fragestellung in das philosophische Gebiet. Wie ist diese philosophische – und hinsichtlich unseres Themas -, ontologische Integration der Freudschen Theorie zu verorten?
In der vorliegenden Arbeit trachte ich nach einem Feld, in dem die Etablierung einer Freudschen Ontologie ermöglicht wird. Wie wir sehen werden, eine solche Grundlegung der Ontologie auf dem Freudschen Ansatz kann nur durch eine Transformation der Seinsfrage möglich werden, die das Sein durch die phänomenale Seinsgegebenheit ersetzt. Ein solches Motiv ist eigentlich typisch phänomenologisch und bestätigt darum nicht zuletzt die phänomenologische Herangehenswseise im Freudschen Diskurs. Wie behandelt Freuds Phänomenologie eigentlich die Seinsfrage?
Schon bei der Einführung des Begriffes der „psychischen Realität“ findet man den ersten wichtigen Hinweis auf diese Grundfrage. Er ermöglicht uns einen Zugang zum philosophischen Grundproblem des Verhältnisses zwischen Realität und Psyche. Obwohl Freud selbst zugesteht, „daß die psychische Realität eine besondere Existenzform ist, welche mit der materiellen Realität nicht verwechselt werden soll“ 1 , kann man trotzdem seine Betonung auf die erstere beschränken, weil für ihn eben diese „psychische Realität die maßgebende ist“ 2 . Eine Freudsche phänomenologische Ontologie fängt also mit eben dieser sogenannten psychischen Realität an, genauer gesagt, mit den Gegebenheitsweisen der Realität bzw. der Objektivität für Psyche. Die Entfaltung einer phänomenologischen Ontologie ist deshalb die Beantwortung einer wesentlichen Frage: Wie besetzt die Psyche ihr Objekt? Anders gefragt: Wie geschieht die Objektbesetzung für die Psyche? Dadurch charakterisiert sich selbst das Wesen der Freudschen phänomenologischen Ontologie: Die Seinsbestimmung ist durch die Objektbesetzung zu transformieren.
Die Aufgabe der Untersuchung besteht demzufolge darin, eben jene Seinsbestimmung als Objektbesetzung konkret zu verstehen. Ebenso wie Heidegger, der die Seinsfrage mit dem Zeitproblem eigentümlicherweise verbindet, so führt uns die Konkretisierung der Objektbesetzung genauso notwendigerweise zur Frage der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Ebendort sehen wir, wie Freud eine geschichtliche Ontologie herausstellt.
Gerade durch diese Hervorhebung der zeitlichen und geschichtlichen Dimension bei Freud kommt uns die Einsicht zu, die die „Analyse“ in der „Psychoanalyse“ auf eine andere Weise erklärt. Wir wissen, die Bezeichnung eigener Methode als Psychoanalyse hängt mit Freuds Wissenschaftlichkeitsanspruch zusammen. „Analyse“ bedeutet für ihn vor allem die „Zerlegung“ bzw. „Zersetzung“, die an die Arbeit des Chemikers denken lässt 3 . Mit meiner Interpretation der Psychoanalyse als einer Geschichtsanalyse in dieser Schrift wird eine implizitere Bedeutung der Analyse freigelegt. Dadurch wird in der Psychoanalyse eine Analytik entdeckt, die mit sich eine eigentümliche Art der ‚Deduktion‘ mitbringt. Wovon geht diese Deduktion aus?
Im ersten Teil wird eine Arche (ἀρχή), ein Urfaktum in der Subjektgeschichte exponiert, das die Urstiftung der Subjektivierung und deren entsprechender Objektivierung markiert. Eben diese Arche bildet den Ausgangspunkt der psychoanalytischen Deduktion jeder nachträglichen Seinsgegebenheit als Objektbesetzung.
Darauf folgt im zweiten Teil die erste Sedimentierung jenes Urbodens in der sogenannten autoerotischen Phase. Hier wird gezeigt, wie eine leibliche Lokalisierung des Triebs die Objektbesetzung bedingt bzw. wie die Seinsverfassung des Gegebenen durch die Erogenität verleiblicht ist.
Der dritte Teil stellt die Wiederauftretung der Mutter- und Vaterfigur im Ödipuskomplex dar bzw. deren radikale Sedimentierung als Verdrängung und die hartnäckige Wiederholung dieser verdrängten Figuren als eine Seinsbestimmtheit für Liebesobjekte.
All dies bildet die Grundstufen eines geschichtlichen Seinsrahmens, der die Phänomenalität der Wunschobjekte im ganzen Subjektleben bestimmt.
1. Die analytische Arche und die Deduktion des Mutterleibs
Um zu verstehen, was für eine Analytik und deren Deduktion die Psychoanalyse eigentlich betreibt, muss man mit einer entscheidenden Frage anfangen: Was ist die Arche einer psychoanalytischen Subjektivität? Wenn man die „phylogenetische“ Dimension vorläufig vernachlässigt, um sich nur auf die „ontogenetische“ zu begrenzen, lautet die Antwort dafür nach Freud: der Mutterleib. Die Verbundenheit damit und die Abgetrenntheit davon markiert ein Urfaktum in der Subjektsgeschichte, und die vom Vortrag sogenannten Analytik und Deduktion, wenn überhaupt, bedeuten also nichts anderes als eine Explikation der Konsequenzen dieses Urfaktums für die Entfaltung des Subjektslebens und dessen entsprechende Objektbeziehung. Was ist die erste Bedeutung der Geburt bzw. des Geburtstraumas als eines transzendentalen Kerns in Hinsicht auf unsere Seinsfrage?
Die Beantwortung dieser Frage führt uns ins Zentrum eines ursprünglichen Zustandes der Subjektivierung: Angst. Was hat die Angst mit dem Mutterleib zu tun?
Nach Freud ist „der Geburtsakt die Quelle und das Vorbild des Angstaffektes ist“ 4 und der „erste Angstzustand“ geht „aus der Trennung von der Mutter” 5 als Urobjekt hervor. Diese Urangst, vom Ursprung des Mutterleibs getrennt zu werden, bildet also die Urstiftung der Subjektsgeschichte, die ursprünglichste Schicht der Subjektivität bzw. den Urboden ihrer Affektivität. Die Subjektivierung als Entfaltung des Subjektslebens ist demzufolge die Sedimentierung dieses Urbodens, der dadurch in der Tiefe der subjektiven Schichtstruktur erhalten bleibt und ebendort als die ursprüngliche Bedingung der Möglichkeit für jede weitere Strukturierung der Subjektivität und deren Gegenständigkeit fungiert. Bis nun kann man vielleicht das erste Verständnis einer analytischen Deduktion in der Psychoanalyse gewinnen. Was ist die echte Bedeutung der Analyse in der Psychoanalyse eigentlich, wenn nicht eine Deduktion der geschichtlichen Konsequenzen dieses Urfaktums der Trennung vom Mutterleib für das Subjektsleben? Was ist die ontologische Konsequenz dieser Analytik?
Für das Subjekt besetzt der Mutterleib die Atopie eines Welthorizontes, der verloren gegangen ist und ein unerfüllbares Loch in der Subjektstruktur hinterlässt. Eben dieses transzendentale Loch des Urobjektverlustes bedingt die Gegebenheitsweise jeder nachträglichen Objektbeziehung. Jede gegenwärtige und zukünftige Begegnung des Subjekts mit einem Objekt ist also ein unbewusster Versuch, die vergangene Besetzung des Urobjekts, die Verbundenheit mit dem Mutterleib in der Zeit vor der Trennung, zu wiederholen, was jedoch unvermeidlicherweise gescheitert ist. Die erste, ursprünglichste Seinsverfassung des Seienden für das Subjekt ist also diese gescheiterte Wiederholung des verlorenen Urobjekts, und ihre Zeitlichkeit ist in der sedimentierten symbiotischen Zeit der Verbundenheit mit dem Mutterleib zu verhaften.
2. Die autoerotische Intentionalität und die leibliche Seinsverfassung des Objektes
Nach der Trennung vom Mutterleib betritt das Subjekt eine neue Lebensphase, die als autoerotisch zu bezeichnen ist. Dem Mutterleib als Urobjekt entzogen kehrt das Subjekt nun zu sich selbst zurück und macht sich selbst zum Ort der Befriedigung. Diesen Ort nennt Freud die „erogene Zone“, und der Autoerotismus, der als Ichlibido das Vorbild des Narzissmus stiftet, erweist sich als eine Landschaft der erogenen Zonen. Diesen erogenen Zonen, die die Objektivierung des Eigenleibs als Objekt der Begierde darstellen, entspricht der sogenannte „Partialtrieb“. Gerade durch diesen Partialtrieb lässt sich eine sehr eigentümliche Intentionalität identifizieren, die die sogenannten „Partialobjekte“ thematisiert. Was für eine Konsequenz hat diese partielle Intentionalität des Partialtriebs für unsere Seinsfrage?
Zu den von Freud als „Libidoentwicklung und Sexualorganisationen“ bezeichneten zählen insgesamt vier Stufen der Verleiblichung der Subjektivität (oral, anal, phallisch, genital). Weil die zwei letzten Gestaltungen der Phallizität und der Genitalität sich ambivalenterweise mit der Objektlibido im Ödipuskomplex verbinden und daher nicht eindeutig im autoerotischen Rahmen bleibt, betrachten wir zunächst die zwei ersten Gestaltungen der Oralität und Analität, die die Ichlibido des Autoerotismus am typischsten erscheinen lässt.
Die Oralität bezeichnet sich als die Einrichtung der ersten, usprünglichsten Quelle des Triebes, und zwar des oralen Partialtriebes, der sich in der Saugestufe bildet und daher aus der Verbundenheit mit dem Mutterbrust entsteht. Nach der Trennung von Mutter verbleibt der erogenen Region des Mundes die Doppelfunktion sowohl der Ernährungs- als auch der Sexualtätigkeit. Ebendort sieht man die Verflochtenheit zwischen diesen beiden Funktionen, die sich an einem Akt wie Lutschen oder, mit dem späteren Auftritt der Zähne, Beißen, voneinander nicht trennen lässt.
Was uns an diesem oralen Trieb interessiert, ist jedoch die Enthüllung einer eigentümlichen triebhaften Intentionalität, die zu einer Neubestimmung der Intentionalität und des damit verbundenen ontologischen Status des intendierten Gegenstandes dient. Die Intendierung der oralen Akte (Lutschen, Beißen, etc.) besteht nicht woanders als in der oralen Objektbesetzung, die in diesem Fall die „Einverleibung des Objektes“ 6 bedeutet. Der orale Partialtrieb intendiert sein Objekt, indem er dieses lutscht, beißt, schluckt, sich dieses einverleibt. All dies führt uns zu einer ontologischen Bestimmung des Seienden als des oral zu charakterisierenden Intendierten. Das Sein des Seienden in diesem Fall ist das Einverleibtsein, das das oral zu besetzende Objekt unter eine kannibalische Seinsverfassung subsumiert.
Wenn die orale Einverleibung in Prinzip eine Identifizierung ist, ist die Analerotik eine Dialektik der Identifizierung und Verfremdung. Hierbei sieht man zwei Phasen, die in Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie als „aktiv und passiv” 7, in Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, und zwar an K. Abraham anschließend, als „die objektfreundlichen des Festhaltens und Besitzens“ und „die destruktiven Tendenzen des Vernichtens und Verlierens“ 8. Die sadistische Intendierung des analen Objektes durchläuft dementsprechend zwei Modi: Im ersteren erscheint das Objekt, in diesem Fall das Exkrement, als ein eigenes „Stück Leiblichkeit“ und ist dem eigenen Leib also als identisch gegeben; im späteren ergibt sich dieses Objekt durch den Akt der Ausscheidung als entäußert und entfremdet, was eine verfremdende Objektivierung des Eigenleibes bedeutet.
Wie wir sehen werden, die Progression des Subjektlebens ist die sedimentierende Aufhebung dieser prägenitalen Phasen, damit sich die geschlechtliche Subjektivierung in der Genitalorganisation vollendet. Das Sedimentierte ist jedoch nicht vernichtet, sondern bleibt im Unbewussten erhalten. Demzufolge ist jede zukünftige Subjektivierung bzw. Objektivierung die Wiederkehr dieses unbewussten Sedimentierten. Wir werden diesem Vorgang im folgenden Teil weiter folgen. Nun genügt uns ein vorläufiger Schluss, dass die Oral- und Analerotik nicht einfach als perverse Affekte anzusehen sind, sondern als die intentionalen Grundmodi des Partialtriebes, die eigentlich auch die verschiedenen Seinsverfassungen des gegebenen Wunschobjektes definieren. Als eine geschichtliche Bedingung der Möglichkeit des Gegebenen können die kannibalische und sadistische Seinsverfassungen des Wunschobjektes also mit Recht als das von mir hypothetisierte geschichtliche Transzendentale bezeichnet werden.
3. Der Ödipuskomplex als der geschichtliche Horizont des geschlechtlichen Phänomens
Nach der kurzen sogenannten „Latenzzeit“ des Autoerotismus kommt die erste Reaktivierung des sedimentierten Mutterleibes im Ödipuskomplex vor. Anders als in den früheren Werken, in denen Freud den Komplex des Mädchens einfach als Vater-Tochter-Beziehung charakterisiert, und zwar in einem symmetrisch analogen Bezug zum Komplex des Knaben als Mutter-Sohn-Beziehung 9, erkennt der spätere Freud die Asymmetrie im Ödipuskomplex für beide Geschlechter an, und führt den Begriff der präödipalen Phase ein, um die Komplexität der weiblichen Subjektivierung zu verstehen 10 . Dies bedeutet, dass auch für das Mädchen der Ödipuskomplex ursprünglich als eine Objektbeziehung zur Mutter gilt, nur, dass er eine kompliziertere Verwandlung durchgeht, als derjenige für den Knaben. Um diese kompliziertere Verwandlung des weiblichen Ödipuskomplexes zu verstehen, fangen wie zuerst mit dem einfacheren männlichen.
Für den Knaben unterliegt die Wiederholung der Mutterbesetzung im Ödipuskomplex unmittelbar einer väterlichen Verdrängung, die denselben durch den sogenannten Kastrationskomplex ersetzt. Der Kastrationskomplex bedeutet für den Knaben die Angst vor einer möglichen Kastration, die zu vermeiden jedoch möglich ist, und zwar dadurch, dass man die Mutterbesetzung nochmals verdrängen muss. Diese entscheidende Sedimentierung durch Verdrängung ist die Grundlage für die Bildung der in der Pubertät erneut hervorgerufenen geschlechtlichen Intentionalität, in der die Mutterfigur noch einmal auftritt und die Intendierung der nachträglichen Wunschobjekte charakterisiert.
Wie wir sehen können, die weibliche Subjektivierung begeht im Anfang genau dasselbe Verfahren, nur mit Modifizierung und Verdopplung. Die erste, nun sogenannte präödipale Mutterbesetzung wird auch durch einen sogenannten Kastrationskomplex verdrängt, der für das Weib jedoch nicht die Angst vor einer möglichen Kastration bedeutet, sondern die Akzeptierung der psychischen Tatsache, angeboren schon kastriert zu sein. Eben dieser präödipale Komplex des Kastriertseins führt das Mädchen danach zum Penisneid und zum Ödipuskomplex mit dem Vater im eigentlichen Sinn, und zwar um dessenwillen, den psychisch schon kastrierten Phallus durch den Vater wieder zu finden.
So unterschiedlich die ödipale Konstellation für die Männlichkeit und die Weiblichkeit sein mag, es ist einig, dass der Ödipuskomplex einen geschichtlichen Horizont bildet, der die nachträgliche erotische Erfahrung bedingt. Jedes Liebesobjekt der Gegenwart und der Zukunft ist daher eine Inszenierung dieses verdrängten urerotischen Horizontes. Jede Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit der erotischen Objektivität ist darum eine nostalgische Inszenierung der verdrängten Vergangenheit.
Schluss
Meine These kann wie folgt zusammengefasst werden: Die mutterleibliche Arche, die autoerotische Verleiblichung und der Ödipuskomplex bilden die Grundlage für jede Subjektivierung und Objektivierung. Dies bedeutet, dass jede Weiterentfaltung des Subjektslebens und jede Erscheinung des Seienden eine Wiederkehr dieser drei ursprünglichen Schichten in Subjektgeschichte ist. Diese Boden der Mutterleiblichkeit, des Autoerotismus und des Ödipuskomplexes können also als der geschichtliche Horizont jeder nachträglichen Objektkonstitution betrachtet werden. Ist es nicht gerechtfertigt, wenn wir einen solchen geschichtlichen Horizont, der eben die Bedingungen der Möglichkeit für jede Objektgegebenheit stiftet, das geschichtliche Transzendentale nennen?
Was ich unter Sein in diesem Vortrag verstehe, ist also eben dieser geschichtliche Horizont, der die genetische Grundstruktur für jede Erscheinungsweise des Objektes ausmacht. Die Freudsche Zeitigung des Seins bezeichnet demzufolge nichts anderes als die zeitliche und geschichtliche Horizontalisierung jedes Gegebenen. Das Sein des Seienden kann also durch Freud phänomenologisch umformuliert werden als die Gegebenheitsweise des Gegenstandes im erotischen Horizont der Subjektgeschichte. Die ontologische Seinsweise des Seienden ist also bei Freud phänomenologisch zu transformieren als das erotische Phänomenregime des Objektes, das nichts anderes ist als die stängdige Eindringung des vergangenen Sedimentierten, in diesem Fall der Mutterleiblichkeit, der erogenen Zonen und der ödipalen Szene, in die gegenwärtige Objektbeziehung.
Die Grundfrage, mit der ich den Vortrag zum Schluß bringen möchte, lautet: Wie soll man die ontologische Spannung zwischen dem Idealismus und dem Realismus in einer solchen phänomenologischen Herangehensweise verstehen, die Freud entwirftt? Auf dem ersten Blick scheint die „psychische Realität“ bzw. Freuds Bevorzugung der psychologischen Determination auf einen Psychologismus zurückzuführen, der sehr wahrscheinlich auf einen idealistischen ontologischen Ansatz hinweist.
Diese Ansicht ist jedoch nicht ganz gerecht.
Eben die Einführung der Objektbeziehung und Objektbesetzung scheint nicht zuletzt auf eine realistische Dimension der Freudschen Phänomenologie hinzudeuten. Die Gegebenheitsweise der nachträglichen Objekte unterliegt dabei nicht der subjektiven Konstitution, sondern ist die Wiederholung einer tief sediementierten ursprünglichen Objektivität, die dem Subjekt selbst unheimlich erscheint. In diesem Maße würde man sagen, dass nicht das Subjekt sondern die Urobjektivität das ist, was sowohl die Subjektivität als auch die nachträgliche Objektivität konstituiert. Die Subjektivität ist nach Freud also nur der andere Name für einen objektbesetzten Ort, einen Übergang, eine Ektopie, wodurch die Urobjektivität sich auf die nachträgliche übertragt. Ein solches unheimliche Urobjekt als das Reale scheint eine Transzendierung der Subjektivität zu sein.
Dies ist jedoch auch nicht weniger unrecht.
Durch die Entdeckung der Urobjektivität ist zwar eine realistische Dimension zu erörtern, weil sie einen Vorrang der Objektivität über die Subjektleistung bejaht. Nicht zuletzt ist diese Urobjektivität jedoch immanent, weil eben diese mütterliche Urobjektivität das Subjekt nicht transzendiert, sondern ihm in seiner Arche, nämlich in seinem symbiotischen Anfang, ganz intim innewohnt. Das Unheimliche, das entsteht, indem das mütterliche Urobjekt wiederauftritt, ist nur eine verkehrte ursprüngliche Heimlichkeit, die erst durch die Verdrängung unheimlich geworden ist. Aus diesen Gründen würde ich den Freudschen phänomenologisch-ontologischen Ansatz nicht anders als einen immanenten Realismus bezeichnen.
Literaturverzeichnis
Freud, Sigmund: Das Ich und das Es, Gesammelte Werke, Bd. XIII. Hg. v. Anna Freud u. a. London: Imago 1940.
- Die Traumdeutung, Gesammelte Werke, Bd. II/III. Hg. v. Anna Freud u. a. London: Imago 1942.
- Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Gesammelte Werke, Bd. V. Hg. v. Anna Freud u. a. London: Imago 1942.
- Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, Bd. XV. Hg. v. Anna Freud u. a. London: 1944.
- Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, Bd. XI. Hg. v. Anna Freud u.a. London: Imago 1944.
- Wege der psychoanalytischen Therapie, Gesammelte Werke, Bd. XII. Hg. v. Anna Freud u. a. London: Imago 1947.
- Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Gesammelte Werke, Bd. II/III, hg. v. Anna Freud u. a., London 1942, 625. ↩︎
- Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, Bd. XI, hg. v. Anna Freud u. a., London 1944, 383. ↩︎
- Sigmund Freud, Wege der psychoanalytischen Therapie, Gesammelte Werke, Bd. XII, hg. v. Anna Freud u. a., London 1947, 184. ↩︎
- Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 412. ↩︎
- Ebd., 411. ↩︎
- Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Gesammelte Werke, Bd. V, hg. v. Anna Freud u. a., London 1942, 98. ↩︎
- Ebd., 99. ↩︎
- Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, Bd. XV, hg. v. Anna Freud u. a., London 1944, 106. ↩︎
- Sigmund Freud, Das Ich und das Es, Gesammelte Werke, Bd. XIII, hg. v. Anna Freud u. a., London 1940, 260. ↩︎
- Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 119-145. ↩︎